Der Autor unseres Wanderführers ist ein Romantiker. Auf unseren sieben Etappen des Moselsteigs „schreiten wir kleinere Taleinschnitte aus“, „wandern, von der bizarren Felslage beeindruckt, mit vollem Herzen durch den Wald hinauf“ und „sind vom Burgblick überwältigt, während unsere Augen auf der Reichsburg ruhen“. Und sie ruhten. Und staunten. In 33 Grad oberhalb eines Weinbergs zu laufen, ist nicht romantisch. Man staunt nicht mehr, man leidet. Pralle Sonne, null Schatten, und die Schieferwand neben uns strahlt die Hitze doppelt wieder ab. Die ersten Tage werden zur Bewährungsprobe. Aber irgendwie kommen wir die Berge hoch und wieder runter, hangeln uns auf schmalen Pfaden an Steilhängen entlang, bewältigen Klettersteige und Aufstiege mit Halteseilen und sehen dabei noch ganz passabel aus. Allerdings gibt es dafür kaum Zeugen - bis auf die einzigen beiden anderen Wanderer vielleicht, die wir am ersten Tag treffen: „Und wir dachten, wir seien die einzigen Bekloppten bei dieser Hitze“. Wir treffen das Paar auf den ersten vier Abschnitten immer wieder, und irgendwann stellt sich heraus, dass sie auch in Bergedorf wohnen. Gleich vier bekloppte Hamburger auf dem Moselsteig. In Cochem tanzt am Samstag der Bär. Der schmucke Ort, über dem die Reichsburg thront, wird am Abend zum Ballermann der Mosel. Während wir mit einer Flasche Wein erschöpft am Ufer sitzen, dreht sich vor uns ein Tanzschiff im Kreis. "Wohl dem, der mit leichtem Gepäck gesegnet ist."Auf unserer Etappe nach Moselkern nehmen wir teil an der „stimmungsvollen Eroberung einer der bekanntesten deutschen Burgen.“ Doch zunächst müssen wir auf einem steilen und schmalen Pfad zur Hangkante hoch. „Wohl dem, der mit leichtem Gepäck gesegnet ist“, sagt der Romantiker. Wir sind es nicht, fluchen und ignorieren die vielen Buchsbaumbüsche, von denen im Wanderführer die Rede ist. Irgendwann zwischen Moselkern und Löf hat man den Blick auf Hatzenport und eine vorgelagerte Insel. Wir konsultieren den Wanderführer und finden heraus, dass auf dem dortigen Campingplatz die Schlaffindungsphase von eindrucksvollen Froschkonzerten akustisch begleitet wird. Das Wort begleitet uns bis zum Schluss. Auf unserer fünften Etappe von Löf nach Kobern-Gondorf verschlechtert sich das Wetter. Der Romantiker behauptet, dass die Moselgoldbrücke den Wanderer trockenen Fußes ans andere Ufer nach Kobern-Gondorf bringt. Wir geraten auf der Brücke in einen Platzregen, der unsere Wanderschuhe fast zum Überlaufen bringt. Und so wandern wir unsere vorletzte Etappe statt in den jetzt rutschigen Steilhängen lieber unterhalb der Mosel. Dort erwischt uns das Gewitter trotzdem, aber wir finden ganz unromantisch Schutz unter einer Autobahnbrücke. Als wir am Pfingstsonntag in Koblenz ankommen und zum Deutschen Eck laufen, fühlen wir uns etwas fremd zwischen den Bustouristen, die an der Mosel entlang spazieren. Wir flüchten in ein Café, und ich probiere die lokale Sachertorte.
4 Kommentare
Dafür, dass ich keine Großstädte mag, lebe ich verdächtig oft in ihnen. Selbstverleugnung? Möglich. Aber ich habe es mir nie wirklich ausgesucht. Entweder war die Liebe dort oder die Arbeit. Neulich morgen fuhr ich mit der S-Bahn zur Arbeit. Ich quetschte mich auf einen Fensterplatz und entschuldigte mich bei der Frau gegenüber, gegen deren Schuhspitzen ich gestoßen war. Neben sie setzte sich etwas übel zugerichteter Mann um die sechzig. Löcher in den Hosen, zerrissener Jackenärmel, langes, ungewaschenes Haar, verkrustetes Blut auf den Fingerknöcheln. Die Frau rückte nach rechts. Im Wagen herrschte eine schläfrige Stimmung. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Lesen, Handy, kurz-noch-mal-die-Augen-zu. Ich zog die Zeitung aus dem Rucksack. Da ging schräg hinter mir ein Gespräch los. Zwei Frauen mit Koffern. Eine um die fünfzig, die andere jünger. Sie sprachen so laut, als säßen sie sich nicht direkt gegenüber, sondern jede am anderen Ende des Wagens. Der Mann mit den blutverkrusteten Fingerknöcheln sah verärgert hoch. „Quack-quack-quack“, brummte er und wackelte im Takt mit dem Kopf. „Quack-quack, quack-quack, quack-quack!“ Ich versuchte zu lesen. Die Frauen wechselten zu Englisch, was jedoch nicht die Lautstärke minderte, sondern nur die Qualität der Sprache. Ich wünschte mir einen Schlechte-Laune-Fresser. Der Mann ging zum Gegenangriff über. Umständlich holte er ein Handy aus der Jackentasche, fummelte daran herum und schnaufte triumphierend, als blecherne Musik ertönte. Dann drehte er die Lautstärke hoch. Die Frauen wurden lauter, um die Musik zu übertönen, wechselten wieder zu Deutsch. Der Mann drehte weiter auf. Ich schlug die Zeitung zu und floh. Dafür gibt's hier gute Werbung für Spießer.
Zur Alp im Kanton Uri komme ich in sieben Stunden - mit Flugzeug, Bahn und Postbus. Die Luftseilbahn, das letzte und dann einzige Transportmittel, bringt mich schließlich zum Ferienhaus, das in 1650 Meter Höhe liegt. Im Tal war es kalt und grau, doch über der Wolkendecke strahlt die Sonne. Hier oben gibt es nur wenige bewirtschaftete Höfe, ein paar Gaststüblis und natürlich die Skilifte, die aber wegen des fehlenden Schnees geschlossen sind. Ich bin etwas nervös. Außer meiner Freundin Tina kenne ich niemanden in der Gruppe, die sich jedes Jahr in dem ehemaligen Bauernhaus trifft. Meine Sorge ist unbegründet; die bunt gemischte Truppe nimmt mich herzlich auf. Nach zwei Tagen habe ich fünfundzwanzig neue Namen drauf. In den nächsten Tagen bleibt es sonnig. Nach dem Frühstück auf der Terrasse fläze ich mich in einen Liegestuhl, wickle mich in eine Decke und setze die Sonnenbrille auf. Ich komme mir plötzlich sehr reich vor. Am letzten Tag des Jahres mache ich mich morgens mit fünf Männern auf den Weg zum Rosstock (2400 Meter). Schnell erreichen wir die Schneegrenze. Über uns zieht ein Milan seine Kreise. Zwei Dohlen fangen im Flug die Brotstücke auf, die wir ihnen zuwerfen. Ich erkläre, dass Dohlen sprechen können, aber keiner glaubt mir. Silvester. Das Motto: verruchte 20er Jahre. Der Aufenthaltsraum wird zum glamourösen Ballsaal, in der Küche entsteht das Gala-Buffet mit Gurkenkrokodil und Mettigel und auf der Terrasse die Bar mit illuminierten Eisblöcken und Fackeln. Wir setzen Zylinder und Schiebermützen auf, legen falsche Wimpern und Federschmuck an und verwandeln uns für einen Abend in Dandys und Flapper Girls. Mit dem neuen Jahr kommt der Schnee. Ich jogge den Berg hinauf und verfluche ein bisschen das Hamburger Flachland. Bis auf mein leises Schnaufen ist es komplett still hier oben. Die einzigen Spuren im frischen Schnee sind die von Kaninchen und Füchsen. Das war's dann auch mit dem Joggen, denn wenig später schneien wir fast ein. Nur einmal machen wir mutig den Versuch eines Spaziergangs. Tief gebeugt kämpfen wir uns durch den Schneesturm, und als wir die Tür zum nur hundert Meter entfernten Berggasthof aufstoßen, sehen wir aus wie die Mitglieder einer Mount-Everest-Expedition. Der Schnee ist mittlerweile so hoch, dass Hund und Kinder fast darin verschwinden. Am letzten Tag beruhigt sich der Sturm, und die Skilifte öffnen. Wir putzen das Haus, ich übe horizontales Teppichkehren, und dann bringt uns die Gondel zurück ins Tal. Was für eine phantastische Woche!
Wenn ich lange nicht gebloggt hat, neige ich dazu, mich zu entschuldigen. Mach ich diesmal nicht. Ich fang einfach wieder an. Moin. Hier in Hamburg verliert man ja nicht so viele Worte. Und gut, dass ich am Anfang nicht so viel reden musste. Als ich Anfang September in dreißig Grad Hitze vor der mannshoch beladenen Palette stand, die mir der Eimskip-Fahrer mit einem knappen Moin vor die Tür stellte, dachte ich, du bist doch hier im falschen Film. Die Kisten sind ausgepackt, und der Film ist echt. Ich wohne in Hamburg-Bergedorf. Die Bergedorfer legen Wert auf Identität. Fahren sie in die Stadt, meinen sie das Bergedorfer Zentrum. Ansonsten fahren sie nach Hamburg. Punkt. Ich gewöhne mich wieder an Kehrwoche und Sonntagsruhe und daran, dass Dinge ihre Zeit brauchen, so wie ein Internetanschluss, Möbellieferungen oder das Bezahlen an der Supermarktkasse. Ich merke, dass ich das Warten verlernt habe. Island ist ein schnelles Land. Manchmal habe ich mich über die ungeduldigen Isländer amüsiert, ohne zu wissen, dass ich längst so geworden war.
Seit einer Weile schon kaue ich an diesem Artikel. Nun wird er langsam zu Brei, und deshalb spucke ich ihn aus. Er wird der letzte sein. Zumindest in diesem Blog unter diesem Namen. Ende dieses Monats verlasse ich Island, das Land, das zu meiner zweiten Heimat geworden ist. Mit dem ich fast zehn Jahre verbunden war. Das mich Gelassenheit lehrte und auch Demut. In dem ich Freunde fand. Das Land mit dieser unmöglichen Sprache und dem noch unmöglicheren Wetter. Das Land der Extreme, in dem so viele liebevolle, spontane und kreative Menschen leben, wie sie mir nirgendwo begegnet sind.
Ich will das "endgültig" gar nicht erst in den Mund nehmen. Die Freunde unken sowieso schon, dass ich bald wieder da sein werde. Kannst ja doch nicht von Island lassen, sagen sie. Recht haben sie. |
Stichwörter
Alle
Archiv
Juli 2022
|