Dafür, dass ich keine Großstädte mag, lebe ich verdächtig oft in ihnen. Selbstverleugnung? Möglich. Aber ich habe es mir nie wirklich ausgesucht. Entweder war die Liebe dort oder die Arbeit. Neulich morgen fuhr ich mit der S-Bahn zur Arbeit. Ich quetschte mich auf einen Fensterplatz und entschuldigte mich bei der Frau gegenüber, gegen deren Schuhspitzen ich gestoßen war. Neben sie setzte sich etwas übel zugerichteter Mann um die sechzig. Löcher in den Hosen, zerrissener Jackenärmel, langes, ungewaschenes Haar, verkrustetes Blut auf den Fingerknöcheln. Die Frau rückte nach rechts. Im Wagen herrschte eine schläfrige Stimmung. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Lesen, Handy, kurz-noch-mal-die-Augen-zu. Ich zog die Zeitung aus dem Rucksack. Da ging schräg hinter mir ein Gespräch los. Zwei Frauen mit Koffern. Eine um die fünfzig, die andere jünger. Sie sprachen so laut, als säßen sie sich nicht direkt gegenüber, sondern jede am anderen Ende des Wagens. Der Mann mit den blutverkrusteten Fingerknöcheln sah verärgert hoch. „Quack-quack-quack“, brummte er und wackelte im Takt mit dem Kopf. „Quack-quack, quack-quack, quack-quack!“ Ich versuchte zu lesen. Die Frauen wechselten zu Englisch, was jedoch nicht die Lautstärke minderte, sondern nur die Qualität der Sprache. Ich wünschte mir einen Schlechte-Laune-Fresser. Der Mann ging zum Gegenangriff über. Umständlich holte er ein Handy aus der Jackentasche, fummelte daran herum und schnaufte triumphierend, als blecherne Musik ertönte. Dann drehte er die Lautstärke hoch. Die Frauen wurden lauter, um die Musik zu übertönen, wechselten wieder zu Deutsch. Der Mann drehte weiter auf. Ich schlug die Zeitung zu und floh. Dafür gibt's hier gute Werbung für Spießer.
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Juli 2022
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