In Selinunte gibt es einen großen archäologischen Park, der aus den Überresten der alten griechischen Stadt Selinus besteht. Er liegt hoch über dem Meer und ist so weitläufig, dass aus unserem Rundgang am nächsten Tag eine kleine Wanderung wird. Die Tempel auf dem Osthügel tragen die unromantischen Namen E, F und G, weil sich die Fachleute offenbar nicht einig sind, welche Gottheiten sie verehren sollten. Alle drei Tempel sind zerstört; Tempel E wurde 1959 teilweise wieder aufgebaut. Scala dei TurchiScala dei Turchi (Türkentreppe) im Süden Siziliens ist eine knapp hundert Meter hohe Klippe aus Kalkstein. Später lese ich, dass sarazenische Piraten (gemeinhin Türken genannt) ihre Schiffe in den Gewässern der Bucht festgemacht haben und diese natürlichen Treppen nach oben geklettert sind, um ins Land einzufallen. Daher der Name „Türkentreppe“. In Berlin stünde die Treppe vermutlich längst auf der Umbenennungsliste. Kleiderbügel auf ItalienischSusanne hat ein musikalisches Gehör. Sobald sie neue Wörter und Sätze hört, spricht sie sie gleich so perfekt aus, dass viele Sizilianer glauben, sie spreche fließend Italienisch. Die Sache mit den Kleiderbügeln geht auch erstmal nur schief, weil ICH nach ihnen frage. In unserem Hotelzimmer in Selinunte gibt es genau vier Bügel, zu wenige für zwei Frauen, die vier Wochen reisen. Ich bitte Francesco in der Rezeption um ein paar mehr, auf Englisch. Francesco, dessen Englisch offenbar genauso gut ist wie mein Italienisch, antwortet höflich, dass wir diese in der Bar bekämen. Alright. Ich drehe mich zu Susanne: „Was heißt Kleiderbügel auf Italienisch?“ „La gruccia“, meldet Susanne nach einem Blick auf ihr Handy. „La gruccia“, gebe ich weiter, doch meine Aussprache muss haarsträubend sein: Francesco guckt so erschrocken, als hätte ich „Zombie hinter dir!“ gesagt. Susanne übernimmt und Francescos Gesicht hellt sich auf („La Grudschja, si-si-si!“). Wenige Minuten später klopft es an der Tür und ein strahlender Francesco reicht einen Armvoll Kleiderbügel herein. Barock und SchokoladeNach einer Woche in Selinunte fahren wir weiter nach Modica – die Stadt des sizilianischen Barocks und der Schokolade. Unsere Gastgeber sind die Betreiber eines Schokoladengeschäfts; wir verbringen dort eine genüssliche Chocolate-Tasting-Stunde. SiracusaUnsere letzte Station in Sizilien ist Siracusa. Die Stadt mit der kleinen Halbinsel Ortigia als historisches Zentrum ist ein einziges großes Denkmal. Im späten 17. Jahrhundert zerstörte ein Erdbeben die Stadt, danach wurde sie im spätbarocken Stil wieder aufgebaut. Die Bebauung auf Ortigia ist noch heute fast genauso erhalten.
Trublig und laut ist es hier: Die schmalen mittelalterlichen Straßen sind schon gut gefüllt mit Touristen, an vielen Ecken wird gepflastert, gestrichen, gebohrt: Die Stadt macht sich bereit für die Urlaubssaison. Ich jogge morgens um die Insel herum und muss an Lipari denken, als ich die Runde ein zweites Mal drehe.
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„Wie auf dem Jahrmarkt, gleich noch mal“, ruft Susanne und biegt scharf links ab, um zur zweiten Runde anzusetzen. An unserem letzten Tag in Lipari haben wir ein Auto gemietet. Zwar wussten wir, dass die Insel klein ist, aber wir waren nicht darauf gefasst, dass es nur fünfundvierzig Minuten dauert, einmal um sie herum zu fahren. Also noch eine Runde, wir müssen ja die Mietgebühr abfahren. Mit der Fähre verlassen wir Lipari am Karfreitag, der Abschied fällt uns ein bisschen schwer. Wir haben uns verliebt in diese knapp neunzig Quadratkilometer große Insel mit ihrem unaufgeregten Leben, ihrer Natürlichkeit und den unfassbar schönen Aussichten auf die Nachbarinseln Stromboli, Vulcano und Salina. Von Milazzo fahren wir mit der Regionalbahn an der Küste entlang nach Cefalù, die Liparischen Inseln dabei immer im Blick. Osterprozession in CefalúCefalù liegt am Fuße eines riesigen Felsens, Rocca de Cefalù. Wir verstehen sofort, warum die Stadt eine der schönsten Italiens ist, als wir durch die alten gepflasterten Gassen spazieren, unter Bogendurchgängen hindurch, hin zu einer hochromantischen Bucht (insbesondere nachts), an die sich ein kilometerlanger weißer Badestrand anschließt. In unserer Wohnung blicken wir von der einen Seite auf die Türme der prächtigen Kathedrale Santissimo Salvatore und von der anderen aufs Meer. Und wir dürfen sogar eine Osterprozession beobachten, insgesamt dreimal kommt sie an unserem Haus vorbei. Lost in TerminiMit einem Cinquecento brausen wir drei Tage später in den Südwesten – obwohl: Eigentlich brausen die Italiener, und zwar an uns vorbei, und das manchmal so eng, dass wir vor Schreck nach Luft schnappen. In Termini Imerese verlieren wir uns in einem Wirrwarr enger Gassen, von denen wir weder wissen, ob wir sie befahren dürfen, noch, ob unser kleiner Fiat überhaupt durch passt. „Oha“, ruft Susanne, die cool bleibt und wieder mal in eine irgendeine schmale Gasse einbiegt, während ich (weniger cool) versuche, uns aus dem Labyrinth heraus zu navigieren. „Einfach weiterfahren“, flüstere ich, als wir auf einem kleinen Platz landen, den Google Maps auch nicht kennt, und auf dem eine Gruppe Männer steht, die uns grimmig anstarren. Sizilien-Klischee, genau, aber so war‘s. Nach einer halben Stunde sind wir raus aus Termini, wischen uns den kalten Schweiß von der Stirn und fahren auf der Autobahn in Richtung Selinunte. Maximale Ineffizienz - angekommen in der AuszeitFast drei Wochen hat es gedauert, bis wir in unserer Auszeit richtig angekommen sind. Erst jetzt können wir die Tage sich entwickeln lassen und nehmen sie, wie sie kommen – ohne ständig das Gefühl zu haben, etwas zu verpassen. Wir haben keine To-do-Listen abzuarbeiten, sondern gestalten unsere Zeit frei. Wir sind maximal ineffizient. Innere Unruhe, Anspannung oder Ängste sind verflogen. Wir schlafen mehr. Wir lachen mehr. Wir lernen andere Seiten an uns kennen. Soweit fühlt sich das ziemlich gut an.
An unserem ersten Morgen auf Lipari werden wir vom lauten Tuten unserer Handys geweckt. Verschlafen starre ich auf den Bildschirm und die einzigen zwei Worte in Großbuchstaben, die ich entziffern kann: ALLARME und IMMINENTE. Bis wir kapiert haben, dass es sich um eine Übung für einen bevorstehenden Vulkanausbruch auf der Nachbarinsel Vulcano handelt, sind wir hellwach und auf den Beinen. Auch schön, draußen scheint die Sonne. Singvögel und OrangenAuf Lipari wohnen wir zunächst in einem Haus oberhalb der Stadt, mitten in der Natur. Meine Birds-App läuft zu Höchstleistung auf und meldet eifrig und in schneller Folge Wiedehopf, Star, Singdrossel, Gartengrasmücke, Buntspecht, Mauersegler, Gimpel, Kleiber, Türkentaube. Ein scheuer und offenbar streunender Hund hält Wache vor dem Eingang zum Haus, aber läuft ängstlich davon, sobald wir uns nähern. Zwei Orangenbäume stehen im Garten hinter dem Haus. Wir sammeln die reifen Früchte auf; sie sind kleiner als die, die wir zuhause kaufen, aber süß und saftig. Ruhe mit VollgasLipari ist ursprünglich, charmant, liebenswert und bei weitem nicht so touristisch wie Taormina. Hier scheint das Leben einem eigenen Rhythmus zu folgen. Die Menschen sind entspannt, freundlich und herzlich und schätzen es, wenn wir an ihnen unsere rudimentäres Italienisch testen. Es ist ruhig in der kleinen Stadt, doch kann der Lärmpegel binnen einer Sekunde von Null auf Hundert steigen, wenn plötzlich zwei Vespas mit Vollgas eine schmale Gasse hinauf jagen. Und schön, dass wir in der Vorsaison hier sind, wir können uns vorstellen, wie sich die verwinkelten Gassen im Sommer mit flanierenden Touristen füllen. Ein Hafen als WohnzimmerDie Marina Corta wird das Wohnzimmer Liparis genannt. Geschützt liegt der kleine Hafen unterhalb des Stadtfelsens Il Castello. Ein paar Fischer gehen ihrer Arbeit nach, in den Lokalen, in denen es fangfrischen Fisch gibt, herrscht wenig Betrieb. Noch sind wenige Gäste hier, nach Ostern soll sich das ändern, hören wir. Tindern analog – La PasseggiataIn Italien gibt es das Ritual des Abendspaziergangs, die Passeggiata. Wir erfahren, dass Lipari der beste Ort ist, dieses Ritual kennenzulernen. So zwischen Feierabend und Abendessen füllt sich der Corso Vittorio Emanuele, die Shoppingstraße Liparis, mit Spaziergängern, alle darum bemüht, gut auszusehen. Die Passeggiata ist sowas wie eine Partnerbörse, nur analog. In Grüppchen spazieren die meist jugendlichen Einwohner den Corso herunter und werfen sich interessierte Blicke zu, während die Alten am Rand das Geschehen amüsiert und interessiert beobachten. Wandern mit AusblickLipari entpuppt sich als Wanderparadies. Am ersten Tag steigen wir auf zum Monterosa und genießen den Blick auf Stromboli. Auch die Wanderung zum alten Observatorium an der Südspitze Liparis ist ein Erlebnis. Wir sehen Vulcano und den rauchenden Krater, die davor liegende Insel Vulcanello und dahinter den Ätna.
Taormina ist klein und überschaubar. Nach drei Tagen sind wir die Sehenswürdigkeiten abgelaufen, zweimal auf die beiden Berge geklettert, die man von hier erreichen kann, und zur Küste hinab gestiegen. Heute, am Tag sechs, stellen wir fest: Taormina ist zu klein für unseren Bewegungsdrang. Es ist wohl nun an uns, uns zu entspannen und uns dem Dolce Far Niente hinzugeben. In Taormina verlaufen wir uns sofort, auch Google Maps und Komoot verzweifeln an den engen, verschlungenen Gassen. Lass uns streuseln, sagt Susanne, also packen wir die Handys ein und "streuseln". Und Taormina verzaubert: schmale Treppengassen, blumengeschmückte Fassaden, romantische Plätze. Wie ein großer Balkon hängt die Stadt einige hundert Meter hoch über der Küste und liefert einen phantastischen Blick über das Meer und zum beeindruckenden Ätna. Aufstieg nach CastelmolaIn und um Taormina geht es eigentlich immer nur bergauf oder bergab. Wir steigen auf nach Castelmola, ein Dorf in 500 Meter Höhe oberhalb von Taormina. Einmal ist der Weg so steil, dass Susanne anmerkt, dass man sich gut auf dem Weg ablegen könnte. Die Versuchung ist groß, der Asphalt warm von der Mittagssonne – wir widerstehen. Unterwegs treffen wir eine lächelnde Opuntia und genießen die Ausblicke auf die Bucht von Naxos. AranciniMittags probieren wir eine sizilianische Spezialität: Arancini, frittierte Reisbällchen gefüllt mit Käse, Gemüse oder Ragout. Sie sind entweder rund oder konisch: hübsche kleine panierte Kegel. Köstlich. Isola BellaImmer wieder werfen wir sehnsüchtige Blicke hinunter zur Küste. Um dorthin zu gelangen, nimmt man die Seilbahn oder steigt Treppen hinab – viele Treppen. Die Seilbahn wird gerade saniert, also müssen wir laufen. Beim Abstieg wird uns ein wenig bange vor dem Rückweg, weil uns viele schnaufende Touristen entgegen kommen. "Wie weit noch nach oben", fragt uns einer, nach Luft schnappend, und stößt ein verzweifeltes "Oh Gott" aus, als wir den weiteren Aufstieg auf zwanzig Minuten schätzen. Der Aufstieg ist dann doch gar nicht so schlimm. Oh OpuntiaIch sage Ohrenkaktus, doch Susanne korrigiert mich: Das sind Opuntien. Als wir ein zweites Mal nach Castelmola hochlaufen, entdecken wir einen schmalen Weg, gesäumt von Blumen, Olivenbäumen und mannshohen Opuntien. Am Anfang fühlt sich unsere Auszeit noch ein wenig fremd an, wie ein zu großes Kleidungsstück, das man nicht ausfüllt. Wir brauchen noch ein bisschen, bis wir hineinpassen, bis wir einige der Strukturen vergessen und Gewohnheiten abgelegt haben, die unser Leben normalerweise bestimmen. Und so halten wir inne, kommen zur Ruhe – und "streuseln".
Was macht man, wenn man von Island nach Sizilien reist? Man guckt sich einen Vulkan an. Ich wollte schon immer mal nach Stromboli, einfach schon wegen des Namens. Stromboli hat ja auch was mit Island zu tun. Auf ihrer Reise zum Mittelpunkt der Erde klettern Lidenbrock & Co in den Snæfellsjökull und werden aus dem Krater des Stromboli wieder ausgespuckt. Als wir bei Anbruch der Dunkelheit in einem Boot um den Vulkan schippern, bekommen wir eine Ahnung davon, wie sich glücklose Nordlichttouristen in Island fühlen müssen. Uns ist wenigstens nicht kalt. Auch sorgt eine Gruppe Jugendlicher in irgendeinem spätpubertären Zucker-High für Entertainment. Vergeblich warten wir auf Flamme und glühende Lava. Zweimal hustet Stromboli eine schwarze Rauchwolke hoch und lässt auch die Spätpubertierer kurzzeitig innehalten. Ein paar Funken springen. Das war's. Die Bootsfahrt war aber schön.
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Juli 2022
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